Unser Mädchen lebe hoch

Unser Mädchen lebe hoch

Das kleine Zimmer war in einen Ballettsaal verwandelt worden. Leise klassische Musik schwebte durch den Raum, der sonst von Visiowänden verhüllte Spiegel an der langen Wand, gegenüber dem Eingang, war freigelegt worden.

Vor dem Spiegel stand ein Mädchen. Es hielt sich an der Stange, die den Spiegel entlanglief, fest und streckte und bewegte seine Beine graziös zu den Klängen der Musik. Das Gesicht des Mädchens wirkte entspannt, ihr Blick leicht verklärt. Doch als die Musik abbrach, wich auf einmal alle Verzückung aus dem Gesicht, es sah nun abgehärmt aus, müde.

Das bemerkte auch die Frau, die dem Spiegel gegenüber auf einem Stuhl saß, von wo aus sie das Mädchen beobachtet hatte. Doch sie kannte diesen plötzlichen Wandel, der ihr Tochter ergriff, sobald sie sich aus ihrer eigenen, kleinen Welt zurückziehen mußte, und sie hatte sich so daran gewöhnt, daß er sie nicht mehr mit der früheren Unruhe erfüllte.

Die Frau stand auf und ging zu dem schwer atmenden Mädchen hinüber. Dieses drehte ihr unmutig den Kopf zu.

"Warum ist es jetzt schon vorbei? Warum kann ich nicht weitertanzen?" fragte es.

Geduld beherrschte die Stimme der Frau.

"Es schaltet sich ab, sobald du nicht mehr kannst. Das weißt du doch."

"Ich will aber noch weitermachen! Ich wünschte, ich könnte immer weitermachen!"

Die Frau nahm das Kind in die Arme und wiegte es leicht.

"Das geht aber nicht, mein Schatz. Du verträgst es nicht. Die Anstrengung ist zu groß, du bist ja jetzt schon feuerrot im Gesicht."

Die Frau drückte auf einen versteckten Knopf in der Wand neben dem Spiegel. Der Knopfdruck ließ die Visiowände wieder vor den Spiegel gleiten und das Abspielgerät mit der klassischen Musik in einer Nische verschwinden.

"Komm, mein Schatz", sagte die Frau sanft, "du darfst aussuchen, was auf den Visios erscheint."

Sie trug das Mädchen zu dem kleinen Panel neben dem Fernsehbildschirm und schaltete auf PANORAMAGESTALTUNG um.

Das Mädchen drückte lustlos die Tasten. Auf den Wänden erschienen nacheinander verschiedene Szenarien; zuerst ein Ausblick auf endlose Weizen- und Kleefelder, dann eine Dschungellandschaft, schließlich der Ausblick auf das pulsierende Nachtleben einer Großstadt. Die Fotografien waren holographisch aufgenommen worden, so daß die Ausblicke von jeder Stelle des Raumes etwas anders aussahen, und die Illusion von Realität und Weite hervorriefen.

Doch das Mädchen war nicht zufrieden mit der Auswahl.

"Diese ganzen Bilder haben wir schon so lange! Können wir uns nicht einmal ein paar neue kaufen?"

Die Frau wurde förmlicher, man merkte, daß das Mädchen auch ihre unbewußten Gedanken ausgesprochen hatte.

"Aber nein, Clarissa, diese Bilder sind schrecklich teuer, die können wir uns im Moment gar nicht leisten, vor allem" -- ihre Stimme wurde leiser -- "vor allem, seit dein Vater sich diese Urlaubsreise in den Kopf gesetzt hat."

Clarissa schwieg. Ihre Mutter trug sie behutsam zu ihrem Rollstuhl und setzte sie hinein. Sofort begann der Computer des Stuhls mit seiner Routineuntersuchung, prüfte Herzschlag, Puls, Blutdruck und den Zustand der Beine.

"Während das dauert, mache ich dir eine Kleinigkeit zu essen", sagte die Frau. Sie ging zu der Kochnische, machte ihre Eingaben in das Kochterminal.

Auf einmal sprach Clarissa wieder. Ihre Stimme klang beherrscht.

"Ich will aber nicht mit auf diese Reise."

Die Mutter erstarrte. Sie drehte sich nicht um, sondern fragte leise:

"Was hast du gegen die Erde, mein Schatz? Du hast das schon einmal gesagt. Du weißt doch, wieviel die Reise deinem Vater bedeutet. Und mir auch. Wir beide sind seit unserem Arbeitsauftrag vor zehn Jahren nicht mehr dort unten gewesen."

Behälter mit Essen wurden in die Mikrowelle geschoben, deren dezentes Brummen die leise Stimme der Mutter noch unverständlicher machte.

"Wir haben Sehnsucht, Clarissa, das wirst du doch verstehen."

Das Mädchen wurde lauter.

"Dann fahrt doch alleine! Ich habe keine Sehnsucht, was soll ich auch da unten. Ich will hierbleiben!"

"Aber warum? Wir drei haben doch schon oft darüber gesprochen, und früher hast du dich nie so geäußert. Die Erde wird dir gefallen. Dort ist alles so viel größer, bunter, schöner..."

Die Frau schaute sich in dem kleinen Raum, der das Zuhause der Familie darstellte, um.

"Himmel, unsere Hotelzimmer würden viermal so groß sein wie dieser mickrige Raum."

Das Mädchen antwortete nicht, sondern es stand auf und ging zur Mutter herüber. Auf seinen verkrüppelten, kraftlosen Beinen bewegte es sich dabei fast so anmutig und sicher wie jeder andere; die kleinen Hüpfer und das leichte Abstoßen der Füße wirkten nicht so, als bewege sich hier ein Mensch, dem die Ärzte mit drei Jahren jede Fähigkeit, einmal aus eigenem Antrieb laufen zu können, abgesprochen hatten.

Hinter der Mutter blieb Clarissa stehen und stützte sich ab. Diese drehte sich herum.

"Um Himmels Willen, Clarissa, bleib' doch sitzen, du wirst dich noch überanstrengen!"

Das Mädchen achtete nicht darauf. Es nagte eine Weile an der Unterlippe, dann schaute es die Frau direkt an.

"Ich habe gelesen, auf der Erde gibt es keine Krüppel."

Ein Schweigen kehrte in den Raum ein, so laut, daß auch das Summen der Mikrowelle es nicht überdecken konnte. Das Gesicht der Mutter zeigte Bestürzung, Angst, Hilflosigkeit. Sie erwiderte nichts.

"Stimmt das, Mutter? Ist das wahr?"

Endlich kam eine Antwort.

"Ja, du hast recht, fast zumindest. Natürlich gibt es in den ärmeren Gebieten der Erde noch Krüppel, aber in Europa fast keine mehr, das stimmt."

Clarissa lehnte sich an die Wand.

"Wie kommt das? Wieso gibt es dort keine Behinderten, sag!"

Die Mutter nahm das Essen und trug es wie mechanisch zum Eßtisch hinüber.

"Du müßtest beim Unterricht eigentlich schon davon gehört haben, aber nein, du bist dazu ja noch zu jung.

Auf der Erde, in den bessergestellten Gebieten (nur Europa zu sagen, wäre unfair), gibt es eine Regelung, die jedem Paar, das Kinder haben will, vorschreibt, das Kind untersuchen zu lassen, wenn es noch in der Mutter ist. Es wird auf alles untersucht, auf Krankheiten, auf Erbgutschädigungen -- schon gut, du wirst einmal lernen, was das ist -- und auf körperliche Behinderungen. Wird irgend etwas festgestellt, so wird dem Paar geraten, das Kind nicht auszutragen."

"Sie machen es tot?" Clarissa klang bestürzt.

"Ja, aber es ist ja noch nicht einmal geboren, verstehst du? Sie sagen, es wäre viel grausamer, das Kind am Leben zu lassen. Auf diese Weise werden dort fast nur noch gesunde Kinder geboren."

"Ich wäre dort also gar nicht am Leben gelassen worden", sagte das Kind leise. "Wieso wird das hier auf dem Mond nicht auch so gemacht?"

Die Mutter seufzte.

" Es wird jetzt so gemacht, bloß damals, als wir dich bekommen haben, nicht."

"Warum?"

Die Mutter schwieg zu dieser Frage, sie wechselte schnell das Thema.

"Willst du deshalb nicht auf die Erde, mein Schatz? Hast du Angst, der einzige Behinderte unter lauter Gesunden zu sein?"

Sie nahm Clarissa in die Arme.

"Aber es gibt auch Menschen, die später, durch einen Unfall zum Beispiel, behindert werden. Glaub mir, du würdest kein Aussätziger sein, nein."

Ganz im Gegenteil, dachte sie.

 

Clarissas Vater bekam den Anruf, als er gerade eine vielversprechende neue Bohrung von seinem Arbeitstrupp durchführen ließ. Er und sein Trupp suchten das ihnen zugeteilte Gebiet, etwa 50 km südlich der Mondenklave "Lunarstation 1" nach Titan- und Siliziumvorkommen ab.

Etwa zwei Kilometer nordwestlich befand sich ein stationäres Lager, das von etwa zwanzig solcher Suchtrupps wie seinem benutzt wurde, und von dem sie an diesem Morgen hierhin gekommen waren, mit drei großen Kettenraupen und mehreren Roboterfahrzeugen.

Nicht, daß solche Begriffe wie "Morgen" oder "Abend" hier, auf der erdzugewandten Seite des Mondes, irgendetwas zu sagen hatten. Einen wirklichen Morgen oder Abend gab es nur zweimal im Monat, wenn die Nachtgrenze des zu- oder abnehmenden Mondes über die Mondstation an den Hängen des Keplerkraters hinwegzog.

Doch die Menschen sind träge, und die auf der Erde bestehende Zeiteinteilung hatte auch hier ihre Gültigkeit. Ebenfalls träge waren die Menschen, was ihre Einstellung zu Robotern anging; sie trauten ihnen nicht, und machten ihnen anvertraute, wichtige Arbeiten lieber selbst.

Deshalb standen die paar Roboterfahrzeuge, die Clarissas Vater mitgebracht hatte, mehr oder minder nutzlos herum, während seine Untergebenen in Raumanzügen über die Mondoberfläche hopsten und den Bohrapparat in Stellung brachten. Unfälle mit den Robotern einer ihm bekannten Truppe, bei der ein Mann versehentlich getötet worden war, hatten sein Mißtrauen -- und das vieler anderer ebenfalls -- bestätigt.

Und so lehnte sich Clarissas Vater gemütlich in seinem Pilotensessel der Kettenraupe zurück und beobachtete seine Männer durch die Sichtscheiben beim Arbeiten. Dank der guten Sicht -- auf dem Mond trübte keine Atmosphäre die Sicht, auch wenn sich das nach dem Willen der Planungskommission im Ablauf von hundert Jahren ändern sollte -- konnte er hinter den Silhouetten der Männer Lunarstation 1 am Horizont erkennen. Die Landungslichter ihres Raumhafens waren sogar noch in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern um die Station zu erkennen.

Wie ein Leuchtturm, der den Schiffen den Weg nach Hause weist, dachte der Vater.

Auf einmal leuchtete die Anzeige des Telefoncomputers auf, ein Anruf war angekommen.

Der Mann wunderte sich; wer konnte ihn hier anrufen?

Er stellte den Computer auf ON. Auf dem kleinen Sichtschirm erschien das Bild seiner Frau, sie sah verschreckt aus, unsicher und verweint.

Sein erster Impuls war, sie zu schelten, hatte er ihr doch oft genug gesagt, ihn nur in Notfällen anzurufen; doch ein genauer Blick auf ihr Gesicht sagte ihm, daß hier ein echter Notfall eingetreten sein mußte.

"Susanne, was ist passiert? Ist irgendwas mit Clarissa?"

Die Frau schaute verstohlen um sich.

"So ist es in der Tat. Sie sitzt gerade an ihrem Computer und lernt, so daß ich mit dir sprechen kann."

Der Mann gab seinem Vorarbeiter, der ihn fragend anschaute, das Zeichen, weiterzuarbeiten.

"Um Himmels Willen, was ist es denn? Geht es ihr nicht gut?"

Susanne erzählte ihrem Mann von dem Gespräch mit ihrer Tochter, von ihren Ängsten.

"Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Ich war schon einmal kurz davor, ihr ihr Geheimnis zu verraten, aber ich denke, wir beide sollten zuerst darüber reden."

"Das hast du gut gedacht. Überstürze bitte nichts! Ich verspreche dir, ich werde mit Clarissa reden, wenn ich am Wochenende wieder daheim bin."

"Okay, ich werde es ihr sagen. Vielleicht gibt sie dann Ruhe."

Die beiden Eheleute brachen ihr Gespräch ab.

 

Am Abend, Stille in der Wohnung, eine Frau an einem Eßtisch, alte Bilder und Zeitungsartikel vor ihr ausgebreitet.

Auf den Bildern ein Baby, in allen Posen, weinend, lachend, schlafend, schreiend, strampelnd mit seinen verkrüppelten Beinen.

Auf dem Fernsehbildschirm ein Video, alte Nachrichten, das Gesicht des Kindes, eine Stimme.

"Endlich ist es soweit! Unseren Reportern ist es gelungen, einen Blick auf das Baby werfen zu können. Ist sie nicht niedlich? Und dahinten sehe ich auch schon den Sekretär des Verwaltungsrates von Lunar 1 kommen, um dem Neugeborenen und der glücklichen Mutter die Geburtsurkunde zu bringen, die erste Urkunde, die unter dem Vermerk "GEBURTSORT" die Eintragung "MOND, LUNAR 1" haben wird! Lang lebe der erste gebürtige Bürger des Mondes, unser Mädchen lebe hoch...!"

Ein Zeitungsartikel.

ERSTER MENSCH AUF DEM MOND GEBOREN

Gestern abend war es endlich soweit. Clarissa Schwarz erblickte als erstes menschliches Wesen das Licht der Welt außerhalb der Erde. Clarissas Mutter, Susanne, äußerte sich hocherfreut über die komplikationslose Geburt ihres Kindes. "Wir hatten das schlimmste befürchtet", gestand sie, "wenn ich an den Vorfall damals denke.

Vor vier Monaten war Susanne bei Hausarbeiten gestürzt und hatte den Fötus verletzt. Die �zte hatten bleibenden Schaden an den Beinen des Kindes diagnostiziert, doch Susanne und ihr Mann, Walter, hatten sich entschlossen, das Baby trotzdem zu bekommen.

"Wir hielten es uns selbst und der Welt für schuldig", sagte die Mutter im Interview. Das nächste Baby wird erst Anfang nächsten Jahres auf Lunarstation 2 erwartet. Bis dahin hat Clarissa das Privileg, einziger eingeborener Mondbürger genannt zu werden.

Schon gestern abend überreichte der Repräsentant der Station und der Europäischen Gemeinschaft Susanne Schwarz feierlich die prächtige Geburtsurkunde ihres Kindes.

"Die wird einen Ehrenplatz an unserer Wand bekommen", sagte Walter, der zusammen mit seiner Frau schon seit zwölf Jahren auf der Mondstation lebt und arbeitet, "direkt neben dem Hologramm von unserer Hochzeit!"

Träume von vergangenen Zeiten.

Ein Jahr lang der Trubel um das Kind, dann kam das nächste, auf das sich die Presse stürzen konnte.

Walters Wunsch, Clarissa ganz normal aufwachsen zu lassen, ohne ihre Berühmtheit.

Aber Clarissa war nicht normal. Mit jeden Tag ihres Lebens wurde ersichtlicher, wie außergewöhnlich sie war.

Der erste Mensch, der nie die Erde gesehen hatte.

Der erste Mensch, der nicht unter dem Druck ihrer Schwerkraft aufgewachsen war.

Ein Mensch, der fast ganz ohne andere Kinder groß werden mußte, ohne Kinderspiele, ohne Schule. Ohne gleichaltrige Freunde.

Ein Mensch, der verkrüppelt war in einer Welt, in der fast keiner es mehr sein mußte. Und durfte.

 

Der Film war zu Ende, das kleine Publikum strömte aus dem Vorführungssaal des einzigen Kinos der Mondstation.

Walter ging neben seiner Tochter her, die im Rollstuhl fuhr. Clarissa schien sich amüsiert zu haben, sie wirkte fast so entspannt wie bei ihren Ballettübungen. Doch bei denen hatte Walter sie noch nie beobachtet, er war ja fast nie zu Hause.

"Möchtest du noch irgendwo hingehen?" fragte er sie. Susanne war in der Wohnung geblieben, ahnend, daß nun das wichtigste aller Gespräche stattfinden würde.

"Ich habe etwas Hunger. Setzen wir uns in die Gemeinschaftsküche?"

Sie gingen dorthin. Der vergleichsweise große Raum war fast leer, nur am Kopfende einer der Tische saß ein Mann und aß etwas. Vielleicht hatte er Streit zu Hause und brauchte Ruhe.

Es kam bei dieser Gemeinschaft, in der die Menschen wegen des wenigen verfügbaren Platzes eng neben- und miteinander leben mußten, oft zu Streitigkeiten, zu Reibereien, die auch ein noch so gutes psychologisches Training nicht verhindern konnte. Etwas wirklich Schlimmes passierte selten. Walter erinnerte sich, daß der letzte Mord fast sieben Jahre zurücklag. Es war zugleich erst der zweite in der Geschichte von Lunarstation 1 gewesen. Die Station war in rechtlicher Hinsicht ebensogut durchorganisiert wie in ökonomischer. Das war auch nötig.

Die beiden bestellten sich ein leichtes Essen. Es bestand aus künstlich hergestellten Nährstoffen, die in den großen Biotanks der Station herangezogen wurden. Nahezu dreißig Prozent ihres Nahrungsbedarfs konnte die Enklave selber decken.

Der Vater dachte wehmütig an die Zeiten auf der Erde, an Mahlzeiten, bei denen das Essen noch natürlich schmeckte. Clarissa machte das Essen natürlich nichts aus, sie kannte ja nichts anderes.

Walter erzählte ihr von dem Essen auf der Erde, von den Tieren, den Pflanzen, davon, wie sehr sie das Leben dort lieben würde. Clarissa reagierte nicht. Dann wurde er direkter, fragte sie nach ihren Sorgen, hörte zu, als seine Tochter ihm das sagte, was sie auch zu Susanne gesagt hatte.

Walter hatte mit seiner Frau geredet. Er zog ein paar Zeitungsausschnitte aus der Jackentasche und gab sie dem Mädchen wortlos. Clarissa sah sie durch. Eine Ewigkeit verging. Schließlich schaute sie ihn an und fragte:

"Bin ich das, ja? Ihr habt mir nie etwas davon gesagt?"

Ein lachendes Gesicht, ein ratloses Gesicht, ein weinendes Gesicht, ein Gesicht, in dem das Verstehen dämmerte, warum das eigene Leben trotz dieser verkrüppelten Beine bestand, warum sie verkrüppelt waren, ein Gesicht, das die Schuld der Eltern erkannte.

 

Von ihrem Platz in der Warteschlange konnten Susanne und Walter den Zuschauerraum hoch über ihnen nicht gut einsehen; sie sahen kaum Clarissa in ihrem Rollstuhl, eine Puppe im Arm, die Pflegemutter hinter ihr.

Sie waren sich der Blicke ihrer Tochter sehr bewußt und warteten ungeduldig darauf, einchecken zu dürfen. An diesem Tag war im Raumflughafen viel los. Fast ein Drittel des Wartungspersonals hatte an dem Tag seine zweijährige Arbeitszeit auf dem Mond beendet und füllte nun das kleine Terminal, wartend auf das Raumschiff, mit dem die Ablösung kommen würde, der Erde entgegenfiebernd.

Susanne setzte sich auf einen freigewordenen Sessel. Sie sah kurz zu Clarissa hoch. Der Abschied von ihr war kurz, schmerzhaft, und ohne viel Wärme gewesen.

"Wir hätten es ihr nie sagen dürfen. Keine noch so schöne Mondbürgerschaft konnte das Wissen um ihre Behinderung aufwiegen. Das hätten wir wissen sollen."

Walter kaute an seiner Unterlippe.

"Irgendwann hätte sie es sowieso erfahren. Es war die ganzen zehn Jahre schon mühsam genug, es ihr vorzuenthalten, die Reporter abzuwimmeln. Sie wird darüber hinwegkommen, und vielleicht auch wir."

Susanne sah ihre Papiere durch und antwortete nicht.

"In den zwei Monaten, in denen wir auf der Erde sind, werden wir alle darüber nachdenken können und etwas Distanz gewinnen; etwas, was hier ja immer fehlt." Er sah sich um. Dann legte er einen Arm um seine Frau.

"Es wäre auch nicht gut für sie gewesen da unten. Die hohe Schwerkraft hätte ihr sehr zu schaffen gemacht und sie an den Rollstuhl gefesselt. Wer weiß, vielleicht hätte es sie noch kränker gemacht."

Susanne nickte. Nun wurden die beiden aufgerufen, an den Abfertigungsschalter zu kommen. Sie warfen noch einen Blick zurück auf Clarissa und tatsächlich, diese winkte zaghaft und lächelte sogar.

Hoffnung lag in der Luft, ebenso wie die Vibrationen, hervorgerufen durch das Andocken des Schiffes.

 

© Chantal Keller 1992
Diese Geschichte ist mein geistiges Eigentum, und darf nicht ohne meine Zustimmung weiterverwendet werden.